Gyurcsánys Lügenrede: Ungarische Traumata (1)

Nach ungefähr zwei Wochen am ungarischen Parlament, nach einer Vielzahl von Gesprächen mit Mitarbeitern und Politikern, merke ich langsam, dass es einige Themen gibt, die sich wie ein roter Faden durch unseren Aufenthalt hier ziehen, weil sie offenbar latent, unter der Oberfläche, für Ungarn eine große Rolle spielen. Fast immer handelt es sich dabei um in irgend einer Weise traumatische Ereignisse. In nächster Zeit möchte ich hier einige davon darstellen. Wenn man die verschiedenen Traumata Ungarns kennt, dann versteht man die Gemütslage des Landes ganz gut.

In der jüngeren politischen Geschichte des Landes ist das prägende traumatische Ereignis ohne Zweifel eine Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány [sprich: Djurtschanj]. Gyurcsány hatte im Mai 2006 auf einer eigentlich nicht-öffentlichen Sitzung von Abgeordneten seiner Partei, der Ungarischen Sozialisten (MSZP), geredet und die Arbeit der sozialistisch-liberalen Koalition seit Amtsantritt 2002 so zusammengefasst:

Wir haben keine Wahl. Und zwar, weil wir es versaut haben. Nicht ein bisschen, sondern sehr sogar. In Europa hat kein Land so einen Unfug getrieben wie wir. Es mag dafür eine Erklärung geben. Wir haben offensichtlich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren von Anfang bis Ende gelogen. Es war vollkommen klar, dass das, was wir sagten, nicht die Wahrheit war. […] Und im Übrigen haben wir vier Jahre lang überhaupt nichts getan. Gar nichts. Ich kann euch keine einzige Regierungsmaßnahme nennen, auf die wir stolz sein können, abgesehen davon, dass wir am Ende das Regieren aus der Scheiße wieder hochbringen konnten. Überhaupt nichts. Wenn wir dem Lande gegenüber Rechenschaft ablegen müssen darüber, was wir im Verlaufe der letzten vier Jahre taten, was sagen wir denn dann? […] Ich bin fast daran verreckt, anderthalb Jahre lang so tun zu müssen, als ob wir regiert hätten. Stattdessen logen wir morgens, nachts und abends. Ich will nicht mehr.

Das ist ein Auszug aus der deutschen Übersetzung der Rede, die sich bei der taz findet. Und wenn man ein bisschen ungarisch spricht und das Original kennt, dann weiß man, dass “Wir haben’s versaut” im Vergleich zum ungarischen Original wirklich ein milder Ausdruck ist. Gyurcsány, der als emotionaler Mensch bekannt ist, hat also wirklich Tacheles geredet.

Die Rede ist von irgendjemandem aufgenommen worden und einige Zeit später veröffentlicht worden. Da hatte Gyurcsány mit der Sozialistischen Partei gerade die Parlamentswahlen 2006 (knapp) gewonnen. Das Ansehen und die Umfragewerte der Sozialisten fielen nach dem Bekanntwerden der Rede in den Keller, wo sie bis heute sind. 

Die Opposition (FIDESZ) lief Sturm gegen Gyurcsány, was sie im wesentlichen bis heute tut. (Erst die Finanzkrise hat in dieser Woche zu einer leichten Annäherung von FIDESZ und MSZP geführt.) Der Ministerpräsident ist bis heute nicht zurückgetreten, obwohl ihm in diesem Frühjahr auch noch der liberale Koalitionspartner und somit die parlamentarische Mehrheit abhanden gekommen ist und er eine Minderheitsregierung führt.

Die “Lügenrede” Gyurcsánys ist das prägende Ereignis der letzten Jahre für die ungarische Politik. Heute stehen sich die Opposition und die Regierungspartei unversöhnlich gegenüber; das politische Klima ist immer noch vergiftet. Von 2006 an bis zu dieser Woche hat FIDESZ bei jeder Parlamentsrede Gyurcsánys demonstrativ den Plenarsaal verlassen. Regelmäßig – vor allem am Nationalfeiertag, dem 23. Oktober – kommt es zu aufstandsähnlichen Ausschreitungen in Budapest. All das lässt sich nur auf der Grundlage des Eingeständnisses Gyurcsánys, dem Land jahrelang und bewusst geschadet zu haben, nachvollziehen.

Die Sozialisten und Gyurcsány selbst sehen das etwas anders. In der Tat wird die Rede immer nur unvollständig zitiert. In den weniger zitierten Teilen versucht Gyurcsány, seine Fraktion von der Notwendigkeit harter Reformen zu überzeugen. Nachdem die MSZP 2002 die Wahl gewonnen hatte, hatte es nämlich zunächst ein großangelegtes Ausgabenpaket gegeben, um die Wahlversprechen zu erfüllen. Diesen Fehler seines Vorgängers wollte Gyurcsány offenbar nicht wiederholen. Man kann seine Situation mit der Gerhard Schröders vergleichen, der ja auch direkt nach dem Regierungsantritt 1998 vor härteren Reformen zurückschreckte und einen konsensualen Anlauf nahm (“Bündnis für Arbeit”), bevor er dann 2002 die Agenda 2010 auf den Weg brachte. Gyurcsány hat auch versucht, mit dieser Absicht seine Rede zu erklären, u. a. in einem CNN-Interview:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=6HTKhm7rlKs&hl=de&fs=1]

Im Frühjahr 2007 hat die Opposition ein Volksreferendum angestrengt und einige Reformmaßnahmen der Regierung mit überwältigender Mehrheit vom Tisch gefegt. Die Opposition – FIDESZ – sagt, das sei nur eine Reaktion auf Gyurcsánys Rede. Die MSZP-Politiker, mit denen wir sprachen, weisen das von sich: Beides habe nichts miteinander zu tun.

Unabhängig davon, wer Recht hat: Die derzeitige Situation ist vor allem durch Stillstand geprägt. Die Liberalen haben die Koalition verlassen, weil die MSZP vor der Wahl 2010 keine Reformen mehr anstrengen möchte. Einige liberale Politiker, mit denen wir geredet haben, machen schon einen ziemlich resignierten Eindruck. Auch MSZP-Abgeordnete haben offen gesagt, dass man die notwendigen, aber eben unpopulären Reformen erst nach der nächsten Wahl anfassen werde. Unterdessen fällt Ungarn im Vergleich zu seinen Nachbarn weiter zurück. 2009 führt die Slowakei den Euro ein, während daran in Ungarn momentan überhaupt nicht zu denken ist.

veröffentlicht am 17. October 2008 um 22.10 Uhr
in Kategorie: In der Welt

Ein Kommentar »

  1. […] November 2008 · Keine Kommentare Anders als die Lügenrede von Gyurcsány oder die Wende 1989/90 ist der Aufstand, der am 23. Oktober 1956 in Budapest begann, ein nationales […]

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