Volksaufstand 1956: Ungarische Traumata (3)

Anders als die Lügenrede von Gyurcsány oder die Wende 1989/90 ist der Aufstand, der am 23. Oktober 1956 in Budapest begann, ein nationales Trauma, das die Ungarn eint. Beide politische Lager sind sich heute in der Beurteilung von 1956 weitgehend einig.

Traumatisch war 1956 trotzdem: Den Ungarn wurde auf drastische Art vorgeführt, dass ihr Land im Ostblock lag. Dem Selbstverständnis seiner Bewohner nach gehört Ungarn aber zum Westen, zum christlichen Abendland. Im Gegensatz zu den Polen, Tschechen, Russen oder Ukrainern sind die Ungarn kein slawisches Volk, was sich unter anderem an der einzigartigen Sprache bemerkbar macht. Und die Nachbarn zum Süden hin – Rumänien und Jugoslawien – gehören nach traditioneller ungarischer Sichtweise gar nicht mehr zu Europa, sondern zum “Balkan”. Das ändert sich in Zeiten der EU-Erweiterungen etwas, aber unter der Haut ist dieses Bewusstsein immer noch da.

1956 hat Imre Nagy versucht, Ungarn aus dem Ostblock herauszulösen und somit die Souveränität des Landes, über die de facto im Kreml entschieden wurde, wiederherzustellen. Am Anfang sah es gut aus: Die Sowjetunion war durch den Anfangserfolg der Aufständischen so überrascht, dass sie ungefähr eine Woche brauchte, um neue Panzertruppen von Osten her nach Ungarn heranzuführen. Anfang November war es dann soweit, und die grausame Niederschlagung des Aufstands begann. Zur gleichen Zeit erweckte der Westen den Eindruck, er würde den Ungarn zur Seite stehen. In Wahrheit tat man in Washington und London natürlich nichts, denn ein Eingreifen in Ungarn hätte mit einiger Sicherheit zum Krieg mit der Sowjetunion geführt. Außerdem waren die Briten und Franzosen im November 1956 gerade dabei, völkerrechtswidrig in Ägypten einzufallen, um den Suezkanal zu besetzen. Die öffentliche Glaubwürdigeit des Westens war also dahin, und die Ungarn standen allein.

Im Nachgang hat 1956 den Ungarn mehr gebracht, als man auf den ersten Blick denken würde. Der von Moskau eingesetzte Parteichef János Kádár war zwar zunächst der meistgehasste Mann Ungarns, entwickelte sich aber über die Jahrzehnte zu einer Art Volkspatriarch, mit dem die Ungarn gut auskamen, weil er sie in Ruhe ließ. Kádár nannte das etwas hochtrabend: “Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns.” In der Praxis hieß es, dass den Ungarn im Vergleich zu den anderen Ländern des Ostblocks ein Quäntchen mehr an Freiheit im Privaten erlaubt war – solange eben die grundsätzliche politische Ausrichtung des Landes unter die Moskauer Oberaufsicht nicht in Frage gestellt wurde. Auch experimentierte die ungarische Staatspartei schon ab 1968 mit der Einführung marktwirtschaftlicher Experimente in die sozialistische Wirtschaftsordnung. In den Achtzigerjahren erschien das Leben in Ungarn den Besuchern aus der DDR schon fast so dekadent wie im Westen.

1956 ist heute noch der zentrale Erinnerungsort der Ungarn, weit mehr als beispielsweise der schon fast vergessene 17. Juni 1953 für die Deutschen. Der 23. Oktober ist Nationalfeiertag und seit 2006 auch wieder der Termin, an dem gewaltbereite Demonstranten auf die Straßen gehen, um sich mit dem Staat anzulegen. Aber dabei geht es eigentlich gar nicht um 1956, sondern um viel neueren Zwist, vor allem um die Beurteilung der Wende 1989/90.

veröffentlicht am 24. November 2008 um 22.16 Uhr
in Kategorie: In der Welt

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