Gans kurz vor Weihnachten

Unser Bild zeigt eine Hausgans aus Kiel, die wahrscheinlich nicht mehr lebt.

23.12.2008, S. 1

Keine Kommentare


Vertrag von Trianon 1920: Ungarische Traumata (4)

Neulich stand ich im Budapester Stadtzentrum in einer U-Bahn-Station und bedauerte mal wieder, meine Kamera nicht dabei zu haben: Ich sah ein recht junges Mädchen, Gothic-mäßig schwarz gekleidet und geschminkt. Auf der entblößten Schulter waren die tätöwierten Umrisse eines Landes erkennbar, dessen Form entfernt an den Umriss der Schweiz erinnerte. Dabei handelte es sich aber um den Umriss Ungarns bis 1920, vor “Trianon”.

Trianon im Alltag

Trianon im Alltag

Jeder Ungarnreisende wird diesen Umriss mehrmals täglich während seines Aufenthalts erblicken: Auf Postern, als Autoaufkleber oder als Anstecker. Die Silhouette des Vor-Trianon-Ungarns ist im Gesicht Ungarns allgegenwärtig, und das offenbar recht unabhängig von der betroffenen Altersgruppe. Das Mädchen in der U-Bahn war noch nicht einmal 20 Jahre alt.

Was also ist Trianon? – Eigentlich zunächst einmal zwei unscheinbare Schlösschen im Park von Versailles bei Paris – Petit und Grand Trianon. Dort wurde 1920 der Friedensvertrag der Siegermächte des 1. Weltkrieges – vor allem Frankreich, Großbritannien und die USA – mit Ungarn geschlossen. Das Königreich Ungarn verlor dabei zwei Drittel seiner Fläche und die Hälfte seiner Bevölkerung, wie jedes ungarische Schulkind im Schlaf berichten kann. Die Ungarn hatten bei diesen Friedensverhandlungen kein Mitsprachrecht – ganz ähnlich zu der Lage der Deutschen, die die Bedingungen des Versailler Vertrags ja auch nicht maßgeblich beeinflussen konnten. Im Gegensatz zu den den Deutschen auferlegten Bedingungen waren die Regelungen für Ungarn aber ungleich härter. Bis 1920 reichte Ungarn von der Adria im Westen bis in die heutige Ukraine im Osten, von der heutigen polnisch-slowakischen Grenze im Norden bis zur Stadtgrenze von Belgrad im Süden. Das ganze Karpatenbecken war zumindest nominell in ungarischer Hand. Halb Kroatien, ein Großteil von Rumänien, Teile der heutigen Ukraine, die gesamte Slowakei und sogar ein Teil des heute österreichischen Burgenlandes gingen für Ungarn verloren.

Ungarns Grenzen vor und nach Trianon

Ungarns Grenzen vor und nach Trianon

Allerdings ging der Neuzuschnitt der Grenzen auf Gründe zurück, die zumindest zum Teil durchaus berechtigt waren. Im Staatsgebiet von Großungarn war 1910 gerade einmal die Hälfte (ca. 48-50 %) der Bevölkerung Ungarn – die andere Hälfte waren Minderheiten: Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Deutsche, Serben, Kroaten und noch einige mehr. Eigentlich waren die Ungarn in Ungarn bis 1920 nur die größte Minderheit oder allenfalls eine ganz knappe Mehrheit. Nachdem der Wiener Hof sich 1867 mit dem rebellisch-nationalen Ungarn auf eine Machtteilung in der Donaumonarchie geeinigt hatte – den sogenannten Ausgleich -, waren die Ungarn neben den Österreichern zum gleichberechtigten Reichsvolk erhoben worden. Sie waren gleichberechtigt an der Regierung beteiligt, genossen außerdem in ihrer Reichshälfte eine weitgehende Autonomie, die nur wenige Fragen – vor allem die Außenpolitik – der gemeinsamen Wiener Regierung überließ. Innerhalb Ungarns konnten die Ungarn ab 1867 recht frei entscheiden und nutzten dies auch aus, um die nicht-ungarischen Minderheiten nach Kräften zu diskriminieren oder zumindest zu magyarisieren. Es gab zwar auch aufklärerische, minderheitenfreundliche Bestrebungen in der ungarischen Politik, aber insgesamt war die Beziehung Ungarns zu seinen Minderheiten beim Kriegsausbruch 1914 vergiftet. Nicht umsonst nutzten diese die Chance des Weltkriegs, um sich aus Ungarn herauszulösen.

Diese Tatsachen vergessen viele Ungarn bis heute gerne oder erwähnen sie zumindest nicht. Gleichwohl verloren die Ungarn mit Trianon nicht nur die nichtungarischen Bevölkerungen, sondern auch ein beträchtlicher Teil der ungarischen Bevölkerung fand sich auf einmal außerhalb der neuen ungarischen Grenzen wieder. Besonders betraf das die Ungarn in der Slowakei und in Transsilvanien (deutsch: Siebenbürgen), das an Rumänien fiel. Heute leben ungefähr 1,6 Millionen Ungarn in Rumänien und 600.000 in der Slowakei, außerdem noch etwa 160.000 in der Ukraine. Bei einer (heutigen) Bevölkerung des neuen Kleinungarns von 10 Millionen macht das verhältnismäßig ein beachtliches Verhältnis von Auslands- zu Inlandsungarn aus. Dabei half es für die Akzeptanz des Vertrags wenig, dass die neue Grenzziehung zur Slowakei und zu Rumänien nicht entlang der Bevölkerungs- oder Sprachgrenze entlang lief, sondern stets zu Ungunsten Ungarns. Häufig geschah dies aus strategischen Gründen. So orientiert sich die ungarisch-rumänische Grenze nicht unwesentlich an einer wichtigen Bahnlinie, die nach dem Willen der Weltkriegsgewinner zu Rumänien kommen sollte.

Dass in Ungarn auch in Zeiten der EU die Nostalgie zu Großungarn anhält, mutet auf den ersten Blick irritierend, vielleicht sogar gefährlich an. In der Tat gibt es in der ungarischen Rechten bis heute Revisionisten, die recht offen eine Wiederherstellung der alten Grenzen fordern. Doch sie sind eine kleine Minderheit. Der Ungar, der sich heute eine Karte von Großungarn ins Wohnzimmer hängt – und davon gibt es viele -, weiß ganz überwiegend, dass ein Zurück zu den alten Grenzen fast neun Jahrzehnte nach Trianon nicht mehr möglich ist.

Die Karte von Großungarn ist vielmehr die Erinnerung an zwei Dinge: Zum einen an die Tatsache, dass die ungarische Nation größer ist als der ungarische Staat – eine Konsensposition, die bis heute auch von fast allen ungarischen Politikern vertreten wird und häufig zu Spannungen mit Bratislava oder Bukarest sorgt, denn die ungarische Regierung hat seit 1990 auch immer die Position vertreten, dass sie die Interessen der Auslandsungarn mitvertritt.

Zum zweiten erinnert das Diktat von Trianon die Ungarn an die Ungerechtigkeit, die ihnen ihrer Meinung nach widerfahren ist. Das ist die Selbstwahrnehmung der Ungarn, nicht nur der ungarischen Rechten: Die Geschichte habe ihr Volk ungerecht behandelt, in neuerer Zeit insbesondere mit Trianon 1920 und mit dem verlorenen Aufstand 1956. Die Ungarn erinnern sich an die glorreiche Zeit zwischen 1867 und 1914, die es so, wie man sie sich heute ausmalt, wahrscheinlich gar nicht gegeben hat.

Noch eine Schlussnotiz: Für uns Deutsche ist die Verwendung der Karte Großungarns vor allem deswegen so irritierend, weil kaum jemand in Deutschland auf die Idee käme, sich einen Aufkleber von Deutschland in den Grenzen von 1937 ans Auto zu kleben. (Ich wüsste noch nicht einmal, wo man einen derartigen Aufkleber bekommen könnte.) Doch dieser Vergleich ist den Ungarn gegenüber unfair, denn Deutschland hat die Ostgebiete unter ganz anderen Umständen verloren als Ungarn seine verlorenen Gebiete. Ungarn hat keinen Vernichtungskrieg in Osteuropa geführt und der halben Welt den totalen Krieg erklärt. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem heutigen Polen legitim war, aber sie muss eben historisch in diesem Kontext betrachtet werden. Dieser Kontext gilt aber nicht für die Verluste, die Ungarn durch Trianon erlitten hat.

Grafik: Wikipedia, Lizenz

8 Kommentare


Frage an Stefan Niggemeier:

Können Sie vielleicht mal einen Zwanziger kleinmachen?

Zwanziger

Zwanziger

Creative Commons License Bild: quinn.anya

1 Kommentar


Volksaufstand 1956: Ungarische Traumata (3)

Anders als die Lügenrede von Gyurcsány oder die Wende 1989/90 ist der Aufstand, der am 23. Oktober 1956 in Budapest begann, ein nationales Trauma, das die Ungarn eint. Beide politische Lager sind sich heute in der Beurteilung von 1956 weitgehend einig.

Traumatisch war 1956 trotzdem: Den Ungarn wurde auf drastische Art vorgeführt, dass ihr Land im Ostblock lag. Dem Selbstverständnis seiner Bewohner nach gehört Ungarn aber zum Westen, zum christlichen Abendland. Im Gegensatz zu den Polen, Tschechen, Russen oder Ukrainern sind die Ungarn kein slawisches Volk, was sich unter anderem an der einzigartigen Sprache bemerkbar macht. Und die Nachbarn zum Süden hin – Rumänien und Jugoslawien – gehören nach traditioneller ungarischer Sichtweise gar nicht mehr zu Europa, sondern zum “Balkan”. Das ändert sich in Zeiten der EU-Erweiterungen etwas, aber unter der Haut ist dieses Bewusstsein immer noch da.

1956 hat Imre Nagy versucht, Ungarn aus dem Ostblock herauszulösen und somit die Souveränität des Landes, über die de facto im Kreml entschieden wurde, wiederherzustellen. Am Anfang sah es gut aus: Die Sowjetunion war durch den Anfangserfolg der Aufständischen so überrascht, dass sie ungefähr eine Woche brauchte, um neue Panzertruppen von Osten her nach Ungarn heranzuführen. Anfang November war es dann soweit, und die grausame Niederschlagung des Aufstands begann. Zur gleichen Zeit erweckte der Westen den Eindruck, er würde den Ungarn zur Seite stehen. In Wahrheit tat man in Washington und London natürlich nichts, denn ein Eingreifen in Ungarn hätte mit einiger Sicherheit zum Krieg mit der Sowjetunion geführt. Außerdem waren die Briten und Franzosen im November 1956 gerade dabei, völkerrechtswidrig in Ägypten einzufallen, um den Suezkanal zu besetzen. Die öffentliche Glaubwürdigeit des Westens war also dahin, und die Ungarn standen allein.

Im Nachgang hat 1956 den Ungarn mehr gebracht, als man auf den ersten Blick denken würde. Der von Moskau eingesetzte Parteichef János Kádár war zwar zunächst der meistgehasste Mann Ungarns, entwickelte sich aber über die Jahrzehnte zu einer Art Volkspatriarch, mit dem die Ungarn gut auskamen, weil er sie in Ruhe ließ. Kádár nannte das etwas hochtrabend: “Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns.” In der Praxis hieß es, dass den Ungarn im Vergleich zu den anderen Ländern des Ostblocks ein Quäntchen mehr an Freiheit im Privaten erlaubt war – solange eben die grundsätzliche politische Ausrichtung des Landes unter die Moskauer Oberaufsicht nicht in Frage gestellt wurde. Auch experimentierte die ungarische Staatspartei schon ab 1968 mit der Einführung marktwirtschaftlicher Experimente in die sozialistische Wirtschaftsordnung. In den Achtzigerjahren erschien das Leben in Ungarn den Besuchern aus der DDR schon fast so dekadent wie im Westen.

1956 ist heute noch der zentrale Erinnerungsort der Ungarn, weit mehr als beispielsweise der schon fast vergessene 17. Juni 1953 für die Deutschen. Der 23. Oktober ist Nationalfeiertag und seit 2006 auch wieder der Termin, an dem gewaltbereite Demonstranten auf die Straßen gehen, um sich mit dem Staat anzulegen. Aber dabei geht es eigentlich gar nicht um 1956, sondern um viel neueren Zwist, vor allem um die Beurteilung der Wende 1989/90.

Keine Kommentare


Print wirkt!

FAZ 21.11.08, S. 4

Sehr fraglich, ob diese aktuelle Printwerbung der Deutschen Bahn potentielle Zweitklassenbahnfahrer wie mich wirklich davon überzeugen kann, bei der nächsten Fernreise das Auto mal stehenzulassen…

3 Kommentare


I’m a barbie cam in a barbie world

Die ganze Welt kann einfach rosa sein: Canon Powershot E 1
[…]
Vor allem in Rosa – zu haben ist das Gehäuse auch in Bübchenblau und Schneeweiß – schaut die zehn Megapixel liefernde Kompaktkamera aus, als habe Barbie über eine Canon Ixus ihren Himbeershake gekippt.
[…]
Die […] rosa Kamera ist jedoch durchaus aufs Anspruchsvoller-Werden durch Weiterbildung angelegt. Gut möglich, dass Ken immer nur im Easy-Herzchen-Modus draufdrückt, Barbie hat auf alle Fälle einiges an ihrer softeisfarbenen Box zu entdecken.

11.11.2008, S. T2 (Technik und Motor)

Keine Kommentare


Obama wird neuer US-Präsident …

… dann könnte McCain doch jetzt eigentlich neuer Ministerpräsident in Hessen werden.

1 Kommentar


Die Wende 1989/90: Ungarische Traumata (2)

Ungarns Wende 1989/90 vom Staatssozialismus zur Demokratie ist grundlegend anders als die Entwicklungen, die sich in dieser Zeit in anderen osteuropäischen Ländern abgespielt hat. In der DDR zum Beispiel war die Wende eine Bewegung, die gegen die Staatspartei SED gerichtet war und im November 1989 schließlich mit dem Mauerfall ihren Höhepunkt fand. Die SED war an dieser Wende nicht beteiligt, sie lehnte sie ganz überwiegend geschlossen ab.

Die Wende in Ungarn hingegen ist eine Entwicklung, die von der damaligen Staatspartei selbst ausging, und die eigentlich auch schon 1988 begonnen hatte. Die ungarische sozialistische Staatspartei (MSZMP) war schon seit Jahrzehnten in zwei Flügel gespalten gewesen: Einem konservativ-staatskommunistischen Flügel stand ein reformfreundlicher Flügel gegenüber. 1988 konnten sich die Reformer durchsetzen und drängten den 75-jährigen Parteichef Janos Kádár in den Ruhestand. Unter dem Ministerpräsidenten Miklós Németh (ab November 1988) entschied sich die MSZMP, den Staatssozialismus abzuschaffen und leitete entsprechende Schritte ein: Die Staatspartei erklärte sich grundsätzlich bereit, im Rahmen eines Mehrparteiensystems arbeiten zu wollen. Imre Nagy – Hauptakteur des Volksaufstandes 1956 gegen die Sowjetunion – wurde rehabilitiert. Mit den aufkommenden Bürgerbewegungen und Parteien bildete man einen runden Tisch. Die Ausarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung wurde auf den Weg gebracht. Das Kontroll- und Sperrsystem an der Grenze zu Österreich wurde abgebaut; später wurde die Grenze ganz geöffnet. (Die Ungarn hatten schon seit einigen Jahren, im Gegensatz zu den DDR-Bürgern, Reisefreiheit, so dass die teure Grenzüberwachung für die ungarische Regierung sowieso sinnlos geworden war.)

All diese Schritte wurden unternommen auf Initiative der MSZMP-Regierung. Der Historiker Andreas Schmidt-Schweizer, der ein sehr genaues (und sehr lesenswertes) Buch über die Entwicklung Ungarns in dieser Zeit geschrieben hat, meinte (in einem Zeitungsinterview) sogar, es habe in Ungarn 1989/90 keine Revolution gegeben:

Der Systemwechsel war in Ungarn völlig gewaltfrei und friedlich. Er lief praktisch im Rahmen eines Prozesses von Gesetzgebung und Gesetzesmodifikation ab. Es gab damals auch keine riesigen Demonstrationen. Der Druck „von unten“, also von Seiten der Gesellschaft war im Vergleich zu Polen, wo es richtige Systemwechseldemonstrationen gegeben hat, gering.

Auch habe es, so Schmidt-Schweizer weiter, nicht einen Systemwechsel gegeben, der zwischen der Staatspartei und den Bürgerbewegungen verhandelt worden sei:

Meines Erachtens trifft der Begriff „verhandelt“ für die Vorgänge in Ungarn nicht zu. Vielmehr gab es meiner Ansicht nach eine Transformation von innen. Diese wurde von bestimmten Kräften innerhalb der Staatspartei initiiert. Die wesentlichen Schritte des Übergangs wurden von Politikern der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) eingeleitet, vor allem von Staatsminister Imre Pozsgay und Ministerpräsident Miklós Németh. Diese Schritte wurden bereits vor den Ausgleichsverhandlungen, den so genannten Rundtischgesprächen zwischen Machthabern und Opposition, unternommen.

Damit war die ungarische Demokratisierung wohl einzigartig in Osteuropa. Während in Ungarn die MSZMP freiwillig den Staatssozialismus und damit letztlich sich selbst abschaffte, wurde im Nachbarland Rumänien der Diktator Ceausescu erschossen.

Offenbar hatten einige kluge Köpfe bei der MSZMP spätestens 1987/88 erkannt, dass es mit dem bisherigen System nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Dadurch war die Wende in Ungarn eine Reform, keine Revolution, was ja nichts schlechtes sein muss: Immerhin floss kein Blut, es gab keine Anarchie, sondern eine Kontinuität der öffentlichen Ordnung. Dennoch hat diese Tatsache auch eine Schattenseite: Vielen Menschen und nicht-sozialistischen Politikern in Ungarn fehlt bis heute ein offener Bruch, eine klare Trennung zwischen alter und neuer Ordnung. Zwar wurden die Revolutionäre von 1956 rehabilitiert, doch kam es nicht zu einer Verurteilung der auf ungarischer Seite an der Niederschlagung beteiligten Akteure. Es gab keine Anklagen, keine Prozesse. Viele Menschen, die in der Diktatur (großes) Unrecht getan hatten, bezogen auch in der Demokratie weiterhin unbehelligt ihre Rente. Vielen Ungarn erscheint das als ungerecht, und sie beschuldigen die MSZMP, die seit 1990 als MSZP firmiert, belastende Dokumente aus den Staatsarchiven im Laufe der Wende beseitigt zu haben.

Hinzu kommt, dass zwar 1990 nach den ersten freien Wahlen eine bürgerliche Regierung an die Macht kam, 1994 es jedoch der MSZP wieder gelang, die Wahlen haushoch zu gewinnen und die Regierung zu stellen. Auch ist die MSZP die einzige Partei, der es nach der Wende gelang, zwei Wahlen hintereinander zu gewinnen (2002 und 2006). Gleichzeitig, so der Vorwurf, profitiert die MSZP bis heute von ihrem Zugriff auf die (ehemals staatlichen) Medien und von Gewinnen aus der Privatisierung, weil findige sozialistische Politiker nach der Wende immer am besten darüber informiert waren, wann ein lukrativer Staatsbetrieb privatisiert wurde. Der derzeitige Ministerpräsident, Ferenc Gyurcsány, hat in den Achtzigerjahren innerhalb der Jugendorganisation der Staatspartei Karriere gemacht und sicherte sich nach der Wende unter anderem eine Hotelanlage am Balaton. Er ist heute ein reicher Mann. In einem Land, in dem viele Rentner Probleme haben, sich Monat für Monat über Wasser zu halten, sorgt das für viel Unmut.

Keine Kommentare


Gyurcsánys Lügenrede: Ungarische Traumata (1)

Nach ungefähr zwei Wochen am ungarischen Parlament, nach einer Vielzahl von Gesprächen mit Mitarbeitern und Politikern, merke ich langsam, dass es einige Themen gibt, die sich wie ein roter Faden durch unseren Aufenthalt hier ziehen, weil sie offenbar latent, unter der Oberfläche, für Ungarn eine große Rolle spielen. Fast immer handelt es sich dabei um in irgend einer Weise traumatische Ereignisse. In nächster Zeit möchte ich hier einige davon darstellen. Wenn man die verschiedenen Traumata Ungarns kennt, dann versteht man die Gemütslage des Landes ganz gut.

In der jüngeren politischen Geschichte des Landes ist das prägende traumatische Ereignis ohne Zweifel eine Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány [sprich: Djurtschanj]. Gyurcsány hatte im Mai 2006 auf einer eigentlich nicht-öffentlichen Sitzung von Abgeordneten seiner Partei, der Ungarischen Sozialisten (MSZP), geredet und die Arbeit der sozialistisch-liberalen Koalition seit Amtsantritt 2002 so zusammengefasst:

Wir haben keine Wahl. Und zwar, weil wir es versaut haben. Nicht ein bisschen, sondern sehr sogar. In Europa hat kein Land so einen Unfug getrieben wie wir. Es mag dafür eine Erklärung geben. Wir haben offensichtlich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren von Anfang bis Ende gelogen. Es war vollkommen klar, dass das, was wir sagten, nicht die Wahrheit war. […] Und im Übrigen haben wir vier Jahre lang überhaupt nichts getan. Gar nichts. Ich kann euch keine einzige Regierungsmaßnahme nennen, auf die wir stolz sein können, abgesehen davon, dass wir am Ende das Regieren aus der Scheiße wieder hochbringen konnten. Überhaupt nichts. Wenn wir dem Lande gegenüber Rechenschaft ablegen müssen darüber, was wir im Verlaufe der letzten vier Jahre taten, was sagen wir denn dann? […] Ich bin fast daran verreckt, anderthalb Jahre lang so tun zu müssen, als ob wir regiert hätten. Stattdessen logen wir morgens, nachts und abends. Ich will nicht mehr.

Das ist ein Auszug aus der deutschen Übersetzung der Rede, die sich bei der taz findet. Und wenn man ein bisschen ungarisch spricht und das Original kennt, dann weiß man, dass “Wir haben’s versaut” im Vergleich zum ungarischen Original wirklich ein milder Ausdruck ist. Gyurcsány, der als emotionaler Mensch bekannt ist, hat also wirklich Tacheles geredet.

Die Rede ist von irgendjemandem aufgenommen worden und einige Zeit später veröffentlicht worden. Da hatte Gyurcsány mit der Sozialistischen Partei gerade die Parlamentswahlen 2006 (knapp) gewonnen. Das Ansehen und die Umfragewerte der Sozialisten fielen nach dem Bekanntwerden der Rede in den Keller, wo sie bis heute sind. 

Die Opposition (FIDESZ) lief Sturm gegen Gyurcsány, was sie im wesentlichen bis heute tut. (Erst die Finanzkrise hat in dieser Woche zu einer leichten Annäherung von FIDESZ und MSZP geführt.) Der Ministerpräsident ist bis heute nicht zurückgetreten, obwohl ihm in diesem Frühjahr auch noch der liberale Koalitionspartner und somit die parlamentarische Mehrheit abhanden gekommen ist und er eine Minderheitsregierung führt.

Die “Lügenrede” Gyurcsánys ist das prägende Ereignis der letzten Jahre für die ungarische Politik. Heute stehen sich die Opposition und die Regierungspartei unversöhnlich gegenüber; das politische Klima ist immer noch vergiftet. Von 2006 an bis zu dieser Woche hat FIDESZ bei jeder Parlamentsrede Gyurcsánys demonstrativ den Plenarsaal verlassen. Regelmäßig – vor allem am Nationalfeiertag, dem 23. Oktober – kommt es zu aufstandsähnlichen Ausschreitungen in Budapest. All das lässt sich nur auf der Grundlage des Eingeständnisses Gyurcsánys, dem Land jahrelang und bewusst geschadet zu haben, nachvollziehen.

Die Sozialisten und Gyurcsány selbst sehen das etwas anders. In der Tat wird die Rede immer nur unvollständig zitiert. In den weniger zitierten Teilen versucht Gyurcsány, seine Fraktion von der Notwendigkeit harter Reformen zu überzeugen. Nachdem die MSZP 2002 die Wahl gewonnen hatte, hatte es nämlich zunächst ein großangelegtes Ausgabenpaket gegeben, um die Wahlversprechen zu erfüllen. Diesen Fehler seines Vorgängers wollte Gyurcsány offenbar nicht wiederholen. Man kann seine Situation mit der Gerhard Schröders vergleichen, der ja auch direkt nach dem Regierungsantritt 1998 vor härteren Reformen zurückschreckte und einen konsensualen Anlauf nahm (“Bündnis für Arbeit”), bevor er dann 2002 die Agenda 2010 auf den Weg brachte. Gyurcsány hat auch versucht, mit dieser Absicht seine Rede zu erklären, u. a. in einem CNN-Interview:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=6HTKhm7rlKs&hl=de&fs=1]

Im Frühjahr 2007 hat die Opposition ein Volksreferendum angestrengt und einige Reformmaßnahmen der Regierung mit überwältigender Mehrheit vom Tisch gefegt. Die Opposition – FIDESZ – sagt, das sei nur eine Reaktion auf Gyurcsánys Rede. Die MSZP-Politiker, mit denen wir sprachen, weisen das von sich: Beides habe nichts miteinander zu tun.

Unabhängig davon, wer Recht hat: Die derzeitige Situation ist vor allem durch Stillstand geprägt. Die Liberalen haben die Koalition verlassen, weil die MSZP vor der Wahl 2010 keine Reformen mehr anstrengen möchte. Einige liberale Politiker, mit denen wir geredet haben, machen schon einen ziemlich resignierten Eindruck. Auch MSZP-Abgeordnete haben offen gesagt, dass man die notwendigen, aber eben unpopulären Reformen erst nach der nächsten Wahl anfassen werde. Unterdessen fällt Ungarn im Vergleich zu seinen Nachbarn weiter zurück. 2009 führt die Slowakei den Euro ein, während daran in Ungarn momentan überhaupt nicht zu denken ist.

1 Kommentar


Danke, Marcel Reich-Ranicki!

Ich habe schon vor vielen Jahren meinen Fernseher verkauft und spare mir seitdem den Fernsehanteil der GEZ-Gebühren. Ich habe es bis heute keinen Tag lang bereut. Nicht alles, was gesendet wird, aber zumindest doch der Großteil des Programms ist einfach eine Beleidigung jedes halbwegs intelligenten Menschen. MRRs Auftritt zeigt, dass es sich keinesfalls um den irrationalen Ausbruch eines Tattergreises gehandelt hat, sondern um die kritische Äußerung eines Menschen, der auch mit 88 Jahren noch erfreulich klar denken kann.

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=KWuinyJgKew&hl=de&fs=1]

2 Kommentare


« Ältere Einträge | Neuere Einträge »